Suche

Allein unter BritenOverlay E-Book Reader

Allein unter Briten

Eine Entdeckungsreise | Tuvia Tenenbom

E-Book (EPUB)
2020 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
502 Seiten; Mit Abbildungen
ISBN: 978-3-518-76336-0

Rezension verfassen

€ 14,99

in den Warenkorb
  • EPUB sofort downloaden
    Downloads sind nur in Österreich möglich!
  • Als Taschenbuch erhältlich
Kurztext / Annotation

Als Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York wusste Tuvia Tenebom schon immer gutes Theater zu schätzen. Und wo kommen die besten Stücke zur Aufführung? In Großbritannien natürlich! Grund genug also, der Insel mal wieder einen Besuch abzustatten, zumal in einer Zeit, in der das große Brexit-Schauspiel über die Bühne geht. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Oder schlicht absurdes Theater?, wollte er von den Briten wissen. Das war zumindest der Plan. Aber: Der Mensch denkt, und Gott lacht, wie es so schön heißt. Denn seine Reise - die ihn über viele Monate durch das Vereinigte Königreich führte und während der er in Winston Churchills Zimmer ein Nickerchen machte, mit Jeremy Corbyn Katz und Maus spielte, mit Nigel Farage verbotenen Tabak rauchte, ein Monster verspeiste und einem Geist nachstellte - gestaltete sich ganz anders als angenommen. Die meisten Inselbewohner wollten nämlich mit ihm nur bedingt über den Brexit sprechen, dafür redeten sie bereitwillig über andere Themen - Themen, die ihnen am Herzen lagen, wie der allgegenwärtige Antisemitismus. Die Gespräche, die Tuvia Tenenbom mit Lords und Ladies führte, mit Politprofis und Pub-Philosophen, Wohlhabenden und Habenichtsen, Geistesgrößen und Geistlichen, mit Gangstern und Beauty Queens, mit Antisemiten und Palästina-Romantikern u.v.m., zeichnen nicht nur ein erhellendes Stimmungsbild der englischen Gesellschaft, sondern zeigen auch, dass sie zutiefst gespalten ist und erbittert um ihre Identität und ihre Zukunft kämpft.



Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutschjüdisch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter für DIE ZEIT. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller Allein unter Deutschen (2012), Allein unter Juden (2014), Allein unter Amerikanern (2016), Allein unter Flüchtlingen (2017) sowie Allein unter Briten (2020).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Die Katze und die Ratte

Es geschah einmal in der ältesten Kirche in Dublin, dass eine Katze eine Ratte jagte, wie es Katzen schon lange vor dem Bau der ersten Kirchen getan haben. Die Ratte, eine Spitzenläuferin von Geburt an, rannte um ihr Leben, direkt in eine der prächtigen Pfeifen der Kirchenorgel hinein. Die Katze wollte sich von der Ratte nicht austricksen lassen und folgte ihr mutig in die Pfeife. Der Rest, wie die Gläubigen sagen, ist Geschichte. Jahr um Jahr, vielleicht tausend Jahre lang, vielleicht weniger, lagen die tote Katze und die tote Ratte Seite an Seite in der Pfeife, konserviert von der sie umströmenden göttlichen Luft und den von den glückseligen Heiligen liebevoll gesungenen geistlichen Hymnen. Bis irgendwer, ein Ungläubiger gar, auf die Idee kam, die Orgelpfeifen zu reinigen. Warum, weiß heute kein Mensch mehr.

Und während die Musik Atem schöpfte, schlüpften die Katze und die Ratte aus der heiligen Orgel, und beide sahen aus wie vor tausend oder vielleicht mehr Jahren.

Es heißt, wer hier seit jenem Tag zu Jesus oder Maria beten will, trifft möglicherweise weder Mutter noch Sohn an, denn sie sind im Himmel, dafür aber die Katze und die Ratte.

Dieses Wunder will ich mit eigenen Augen sehen.

Ich steige in ein Flugzeug, schlafe ein und wache in Irland wieder auf.

So kommt man am schnellsten nach Irland: Irgendwo in einen Flieger steigen, einschlafen, und schwupps sind Sie da.

Kaum gelandet, steige ich aus und zünde mir neben einer rauchenden Dame eine Zigarette an.

Was bedeutet es, Irin zu sein?, frage ich sie.

»Wir sind freundliche Menschen.«

Und die Briten, sind die auch freundlich?

»Die Briten sind zu schwermütig, zu ernst. Wir Iren sind entspannt, nicht wie die Briten.«

Mögen die Iren die Briten?

»Die eine Hälfte ja, die andere nicht.«

Ich bin aus Österreich. Mögen Sie die Österreicher?

»Die kenne ich nicht.«

Laut New York Times, die einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation zitiert, »werden die Iren im Komasaufen allein von den Österreichern übertroffen«. Warum also nicht behaupten, ich wäre Österreicher, Trinker im Geiste?

Wenn ich fremde Menschen interviewe, stelle ich mich oft als deutscher Journalist namens Tobias vor. Meiner Erfahrung nach sind die Leute ehrlicher, wenn sie mich für einen Deutschen halten. Manchmal, wenn die Umstände es verlangen, sprudeln andere Nationalitäten aus meinem Mund.

Jetzt nehme ich ein Taxi, fahre zum Brooks Hotel, gebe meine Sachen ab und mache mich auf den Weg in die nahe gelegene Fade Street, wo, wie mir ein Hotelgast berichtet, sich die berühmten Dubliner Trunkenbolde versammeln.

Aber ich finde keine.

Wo sind die besoffenen Iren?

»Kommen Sie Freitagnacht wieder«, rät mir ein junger Mann. »Wenn Sie spät genug kommen, werden Sie sie sehen.«

Gut, das mache ich.

Die Sonne scheint, das Wetter ist höchst angenehm, und ich begebe mich zur Christ Church Cathedral, Ruhestätte der Katze und der Ratte.

In der Kirche betet gerade niemand. Es ist die Stunde der Touristen, und die müssen Eintritt zahlen.

Gott steckt anscheinend in finanziellen Schwierigkeiten.

Nun gut.

Ein Schild weist nach unten in die Krypta.

Hier liegen die Katze und die Ratte, von manchen Tom und Jerry genannt, in all ihrer mumifizierten Pracht.

Oh, Herr im Himmel, welch grässlicher Anblick.

Warum wollte ich mir unbedingt eine tote Ratte ansehen?

Ich Dussel.

Nichts wie weg.

Ich wandere durch die Straßen von Dublin. Die Schilder sind zweisprachig, auf Gälisch und Englisch. Wie viele Iren sprechen Gälisch?, frage ich einige irische Passanten. Die meisten antworten, sie selber nicht, schätzen aber, zwischen 3,9 und zehn Prozent der Iren würden Gälisch sprechen.

Irgendwann meldet sich mein Magen, und ich gehe mittagessen.