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Über alle GrenzenOverlay E-Book Reader

Über alle Grenzen

Roman nach einer wahren Geschichte | Hera Lind

E-Book (EPUB)
2019 Diana Verlag
400 Seiten
ISBN: 978-3-641-20313-9

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Kurztext / Annotation
Voller Begeisterung zieht die bayrische Familie Alexander in den späten 1950er-Jahren vom Chiemsee nach Thüringen, wo der Vater Direktor im Erfurter Zoo wird. Ein Paradies für die Kinder Lotte, Bruno und deren Schwestern. Doch dann wird die Mauer gebaut, und es gibt kein Zurück. Obwohl der musikalisch hochtalentierte Bruno gerade frisch verheiratet und Vater geworden ist, flieht er Hals über Kopf in den Westen. Er ist frei, hinterlässt aber eine geschockte Familie, deren Leben nun vollends aus den Fugen gerät. Besonders als Bruno den Vater anfleht, seiner Frau und dem Baby zur Flucht zu verhelfen ...

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Neumünster, 16. Oktober 2010

»Nebenan! Trauen Sie sich ruhig, er beißt nicht!«

Die nette weißblonde Pflegerin im hellblauen Kittel hatte alle Hände voll zu tun. Sie wies mit dem Kinn auf die nächste Tür in dem Pflegeheim, das ich zaghaft betreten hatte. Jahre hatte ich intensiv nach meinem Bruder gesucht. Er hatte uns alle in die Katastrophe gestürzt, aber nicht mit Absicht. Nein, Lotte, er konnte nie etwas dafür!, sprach ich mir Mut zu.

Vorsichtig klopfte ich an. Die Tür war nur angelehnt. Wie von Geisterhand öffnete sie sich einen Spalt. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und altem Mann ließ mich erschaudern.

Ich atmete tief durch. Jetzt war der Moment gekommen, auf den ich über dreißig Jahre gewartet hatte. Jetzt würde ich ihn alles fragen können.

Noch einmal klopfte ich zaghaft, um ihn nicht zu erschrecken. Möglicherweise schlief er ja?

Sanft schwang die Tür vollends auf. Ich straffte die Schultern und hielt die Luft an.

»Hallo Bruno? Ich bin's, Lotte!«

Ein Bett mit Schutzgitter, ein Schrank, ein Nachttisch. Über dem Bett ein Galgen. Die Wände in Beige gehalten. Ein Kaktus, eine Schnabeltasse, ein Teller mit bräunlich angelaufenen Apfelschnitzen.

Am Fenster stand ein Rollstuhl. Darin saß ausgemergelt ein alter Mann mit spärlichem weißen Haar und starrte ins Leere. Seine faltige Haut war grau.

»Bruno?«

Fassungslos sank ich vor diesem Häuflein Elend auf die Knie. Mein Herz hämmerte.

Nein. Ich hatte mir vieles ausgemalt, aber nicht das hier.

Mühsam hob der verhärmte Mensch, der mein Bruder sein sollte, den Kopf. Aus seinem halb offenen Mund kam ein Laut des Erstaunens.

Seine glanzlosen Augen hatten Mühe, meinen Blick zu halten. Dann verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. Hatte er mich erkannt?

»Bruno? Ja, da staunst du, was? Ich bin's, deine Schwester Lotte!«

Aus seinem Mundwinkel seilte sich ein Speichelfaden ab. Er versuchte, den Arm zu heben, um ihn abzuwischen, aber es gelang ihm nicht. Schnell griff ich nach einem Handtuch, das über der Stuhllehne hing.

»Du machst ja Sachen!« Ich tupfte an ihm herum wie eine Mutter an ihrem Kind.

Sekundenlang starrten wir uns an. Plötzlich begann seine Unterlippe zu zittern, und aus seinen trüben Augen kamen kleine Rinnsale, die durch sein ausgemergeltes Gesicht pflügten und in seinem ungepflegten Bart versickerten. Er war sichtlich bewegt.

»Bruno, es hat Ewigkeiten gedauert, bis ich dich gefunden habe!«, quasselte ich los. Bloß nicht selbst losheulen jetzt! »Kein Mensch wusste, wo du steckst, und Paul meinte - du weißt doch noch, wer Paul ist, nicht wahr? Mein Mann! Also Paul meinte, übers Internet müsste es doch möglich sein, dich zu finden. Schließlich warst du mal berühmt!«

Ich biss mir auf die Lippe. Offensichtlich war er es jetzt nicht mehr. Kein Mensch scherte sich noch darum, wer Bruno Alexander einmal gewesen war. Ein berühmter, erfolgreicher Geiger, der ganze Konzertsäle gefüllt hatte und den wir im Fernsehen bewundert hatten.

»Wir haben dich gegoogelt, aber nichts Aktuelles über dich gefunden ...«

Wie denn auch. Mein Bruder Bruno war seit Jahren eine gescheiterte Existenz. Nur durch die spärlichen Auskünfte seiner inzwischen erwachsenen Kinder, die nichts mehr von ihm wissen wollten, waren wir schließlich auf die Idee gekommen, sämtliche Pflegeheime abzutelefonieren, die in der Nähe seines letzten bekannten Wohnsitzes lagen. Und so waren wir auf dieses hier gekommen. Hier war mein armer Bruder also gestrandet.

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich ganz nah zu ihm. Seine mageren Beine steckten in alten Jogginghosen, denen ein eindeutiger Geruch entströmte. Die Pflegerin hatte mir schon gesagt, dass er Windeln trage. Mein Blick glitt zu seinen Füßen hinunter, die in offenen Gummisandalen steckten. Seine Zehennägel waren gelb und verbogen. Ein verwahrlostes B