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Neujahr

Roman | Juli Zeh

E-Book (EPUB)
2018 Luchterhand Literaturverlag
192 Seiten
ISBN: 978-3-641-22123-2

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€ 11,99

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Kurztext / Annotation
Ein Familienurlaub auf Lanzarote, der zum Albtraum wird...
Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning sitzt auf dem Fahrrad und will den Steilaufstieg nach Femés bezwingen. Seine Ausrüstung ist miserabel, das Rad zu schwer, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, lässt er seine Lebenssituation Revue passieren. Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Er hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Mit seiner Frau Theresa praktiziert er ein modernes, aufgeklärtes Familienmodell, bei dem sich die Eheleute in gleichem Maße um die Familie kümmern. Aber Henning geht es schlecht. Er lebt in einem Zustand permanenter Überforderung. Familienernährer, Ehemann, Vater - in keiner Rolle findet er sich wieder. Seit Geburt seiner Tochter leidet er unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen wie ein Dämon. Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier in Femés. Damals hatte sich etwas Schreckliches zugetragen - etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Auf dem kleinen Kirchplatz lehnt er das Rad an die Mauer und fällt auf eine gemauerte Bank. Der Stein kühlt Oberschenkel und Rücken. Für einen Augenblick verschwinden die Schmerzen. Hennings Körper sinkt in sich zusammen, die Gedanken schweigen. Er spürt die Wärme der Sonne und das Streicheln des Windes, der hier in der Dorfmitte nur mäßig bläst. Er riecht den würzigen Duft eines Pfefferbaums, der seine Zweige über den Platz hängen lässt. Genau wie sämtliche Häuser und Mauern ist die kleine Kirche blendend weiß, reflektiert das Sonnenlicht, so dass man kaum hinsehen kann. Am schlichten Portal hängt eine Tafel, die an irgendeinen Don Pedro mit sehr langem Nachnamen erinnert. Darüber das Bild einer Maria, der blutige Tränen über das Gesicht laufen. Eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie scheint auf Henning herunterzusehen.

An der Ecke des Platzes befindet sich ein kleiner Lebensmittelladen, allerdings geschlossen, was für Henning keine Rolle spielt, da er nicht nur den Proviant, sondern auch das Geld vergessen hat. Er beschließt, sich etwas auszuruhen und dann den Rückweg anzutreten. Von hier aus nach Playa Blanca geht es ausschließlich bergab, die Fahrt dürfte nicht länger als eine Stunde dauern. So lange müssten sich Hunger und Durst noch in Schach halten lassen. Henning stellt sich vor, wie er den Abhang, an dem er sich bis eben gequält hat, in halsbrecherischem Tempo hinunterrast. Auf der ersten Hälfte der Strecke wird er ausschließlich bremsen müssen, später vielleicht ein bisschen treten. Es wird leicht gehen. Er stellt sich vor, wie er zurück ins Scheibenhaus kommt und Theresa von seinen guten Vorsätzen erzählt. Dass er im neuen Jahr mehr lachen und sie öfter umarmen wird. Dass er die Steilauffahrt nach Femés geschafft hat.

Henning hebt das Gesicht in die Sonne und spürt ihre Kraft. Sie lädt ihn auf wie einen Akku. Pure Energie. Es wird nicht lang dauern, dann sind die Batterien wieder voll.

Als er aber aufstehen und aufs Rad steigen will, wird sofort klar, dass das nicht geht. Der Schmerz kehrt zurück, die Muskeln krampfen. Mit beiden Händen hält sich Henning am Lenker fest, setzt mühsam Fuß vor Fuß, als würde er gerade erst das Gehen erlernen. Beim Gedanken ans Radfahren streikt der ganze Organismus. Essen, Trinken. Das ist es, worum er sich kümmern muss. Vielleicht auch um einen Platz zum Hinlegen.

Schiebend überquert Henning die Straße, geht an der Rückseite der Restaurants entlang und ein Stück parallel zum Grat. Rechts und links der Gasse stehen niedrige Häuser mit kleinen Fenstern, schmucklos eingebunkert gegen Sonne und Wind. Sie erinnern daran, dass solche Bergdörfer von Ziegenkäse gelebt haben, bevor der Tourismus auf die Insel kam. Henning hält Ausschau nach einem menschlichen Wesen, das er um Hilfe bitten kann. Er überlegt, was Essen auf Spanisch heißt. Ihm fällt nur »mangiare« ein. Zur Not wird er sich mit Gesten verständlich machen müssen, die Hand an den Mund führen, sich den Bauch reiben, Hunger, Durst. Am Nachmittag kann er mit dem Auto wiederkommen und alles bezahlen. Aber es ist niemand zu sehen. Selbst der Gärtner samt Gartenschlauch ist spurlos verschwunden, Henning könnte nicht einmal sagen, auf welchem Grundstück er gestanden hat. Er wird an eines der Häuser klopfen müssen, an eine grüngestrichene Tür oder einen geschlossenen Fensterladen. Nur kann er sich nicht entscheiden, an welches. Henning geht weiter, betrachtet die Fassaden, diese hier wirkt abweisend, jene auch, hier steht nicht mal ein Auto vor der Tür, dort bellt ein wütender Hund in einem Zwinger. Es ist nicht so, dass Henning sich nicht zu klopfen traut, aber es sind die falschen Häuser, das spürt er genau.

Verwirrt gelangt er auf den kleinen Kirchplatz zurück, stellt das Rad ab und dreht sich langsam im Kreis. Da ist etwas, Henning weiß nur nicht, was. Etwas, das passieren muss. Er fragt sich gerade, ob er vor Erschöpfung den Verstand verliert, als er es bemerkt. Keine Stimmen, ke