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Gehen, ging, gegangenOverlay E-Book Reader

Gehen, ging, gegangen

Roman | Jenny Erpenbeck

E-Book (EPUB)
2021 Penguin Verlag; Knaus, München 2015
352 Seiten
ISBN: 978-3-641-29090-0

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Kurztext / Annotation
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind.

Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als Man Booker International Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman »Heimsuchung« wird vom Guardian auf der Liste der »100 Best Books of the 21st Century« geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans »Kairos« war in den USA für den National Book Award nominiert und steht 2024 auf der Shortlist für den International Booker Prize. Erpenbecks Werk erscheint in über 30 Sprachen.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar. Es ist jedenfalls so, dass Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen. Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit, um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich daran gewöhnt hat, Zeit zu haben. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf? Erfolg hat er gehabt. Und nun? Das, was Erfolg genannt wird. Seine Bücher wurden gedruckt, zu Konferenzen wurde er eingeladen, seine Vorlesungen waren bis zuletzt gut besucht, Studenten haben seine Bücher gelesen, sich Stellen darin angestrichen und zur Prüfung auswendig gewusst. Wo sind die Studenten jetzt? Manche haben Assistenzstellen an Universitäten, zwei oder drei sind inzwischen selbst Professoren. Von anderen hat er lange nichts mehr gehört. Einer hält freundschaftlichen Kontakt zu ihm, ein paar melden sich von Zeit zu Zeit.

So.

Von seinem Schreibtisch aus sieht er den See.

Richard kocht sich einen Kaffee.

Er geht mit der Tasse in der Hand in den Garten und sieht nach, ob die Maulwürfe neue Hügel aufgeworfen haben.

Der See liegt still da, wie immer in diesem Sommer.

Richard wartet, aber er weiß nicht, worauf. Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal. Denkt er. Und dann denkt er, dass er, natürlich, nicht aufhören kann mit dem Denken. Das Denken ist ja er selbst, und ist gleichzeitig die Maschine, der er unterworfen ist. Auch wenn er ganz allein ist mit seinem Kopf, kann er, natürlich, nicht aufhören mit dem Denken. Auch, wenn wirklich kein Hahn danach kräht, denkt er.

Er stellt sich einen kurzen Moment lang vor, wie ein Hahn mit dem Schnabel in seiner Abhandlung über den »Begriff der Welt im Werk von Lukrez« blättert.

Er geht wieder ins Haus zurück.

Er überlegt, ob es für das Jackett zu warm ist. Braucht er überhaupt ein Jackett, wenn er allein in seinem Haus herumgeht?

Vor Jahren, als er durch Zufall erfuhr, dass seine Geliebte ihn betrog, half ihm nichts anderes über die Enttäuschung hinweg, als die Enttäuschung in Arbeit zu verwandeln. Monatelang war das Verhalten dieser Geliebten Gegenstand seiner Untersuchungen gewesen. Beinahe hundert Seiten hatte er geschrieben, um alles, was zu diesem Betrug geführt hatte, und auch die Art, wie der Betrug von der jungen Frau ins Werk gesetzt worden war, zu ergründen. Seine Arbeit hatte in Hinsicht auf die Beziehung zu keinem besonderen Ergebnis geführt, denn die Geliebte verließ ihn wenig später endgültig. Aber immerhin hatte er auf diese Weise die ersten Monate nach der Entdeckung, in denen ihm wirklich elend zumute gewesen war, hinter sich gebracht. Das beste Heilmittel gegen die Liebe, wusste ja schon Ovid, ist die Arbeit.

Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich. Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen. Einen kurzen Augenblick hat er die Vision eines zornigen, bunten Hahnes, der mit seinem Schnabel und seinen Krallen ein Buch zerfetzt, dessen Titel ist: »Versuch über das Warten«.

Vielleicht ist eine Strickjacke seiner Situation wirklich angemessener als ein Jackett. Bequemer jedenfalls. Und rasieren müsste er sich jetzt, da er nicht mehr täglich unter Leute geht, eigentlich auch nicht mehr jeden Morgen. Wachsen lassen, was wachsen will. Einfach nur nicht mehr dagegenhalten, oder ist das schon der Anfang vom Sterben? Das Wachsen der Anfang vom Sterben? Nein, das kann nicht stimmen, denkt er.

Den Mann, der unten im See liegt, haben sie immer noch nicht gefunden. Kein Selbstmord, sondern beim Baden ertrunken. Seit diesem Tag im Juni liegt der See still da. Tag für Tag still. Juni still. Ju