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Der letzte OrtOverlay E-Book Reader

Der letzte Ort

Roman | Sherko Fatah

E-Book (EPUB)
2014 Luchterhand
288 Seiten
ISBN: 978-3-641-12376-5

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Kurztext / Annotation
Ein literarischer Thriller über Freundschaft und Verrat.
Die Welt um Albert, einen deutschen Aussteiger, ist geschrumpft, seit er im Irak entführt wurde. Sie besteht nur noch aus dem, was der Zwischenraum zwischen den roh gezimmerten und doch unüberwindlichen Holzlatten des Verschlags zeigt, in den seine Entführer ihn eingeschlossen haben. Nie hätte er sich ausmalen können, wie sich das anfühlt: die Angst, gefesselt in einem Stall zu verrecken, umschwirrt von Fliegen, getrennt von seinem Übersetzer Osama, seiner Brücke in die fremde Kultur.

Längst ist Osama, ein Einheimischer, der aus einer liberalen Familie stammt, zum Freund geworden. In der Gefangenschaft, der Willkür ihrer Entführer ausgesetzt, die sie mal getrennt, mal zusammen, von Ort zu Ort schleppen, begannen sie zu reden: über den Hass zwischen den Kulturen, der mit dem Denken beginnt, und über ihre eigenen Leben. Albert wird bewusst, wie wenig Osama, der sein Land im Krieg erlebt hatte und nun als Verräter gefangen gehalten wird, mit seinen Geschichten anfangen kann. Und doch ist das Reden das einzige, was ihnen bleibt am vielleicht letzten Ort ihres Lebens, an dem das Leben der anderen weiter geht, als wäre nichts geschehen.

Sherko Fatah erzählt die Entführung von Albert und Osama als atemberaubenden literarischen Thriller und sensibles Psychogramm beider Figuren. Beide geraten in der aussichtlosen Situation an ihre Grenzen und verlieren sich in ihrer eigenen Angst und im wachsenden Misstrauen gegen den anderen. Als ihnen die Flucht gelingt, ist zwischen ihnen nichts mehr wie zuvor.

Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Für sein erzählerisches Werk hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste und den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2015, außerdem den Aspekte-Literaturpreis für den Roman »Im Grenzland«. Er wurde mehrfach für den Preis der Leipziger Buchmesse (2008 mit »Das dunkle Schiff«, 2012 mit »Ein weißes Land«) nominiert und mit »Das dunkle Schiff« auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 gewählt.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Was siehst du?«, flüsterte Albert, zog den Kopf zurück und setzte, etwas lauter, noch einmal an: »Was siehst du?«

Er leckte sich die trockenen Lippen und wischte an der Wand entlang den Schweiß von seiner Stirn. Der Gedanke, der armselige Ausblick durch zwei roh gezimmerte Holzlatten könnte sein letzter Eindruck von der Außenwelt sein, ängstigte ihn nicht nur, er amüsierte ihn zugleich. Dieser Flecken im Nirgendwo würde schon allein durch seine Bedeutungslosigkeit alles, was ihm bevorstand, lächerlich wirken lassen. Ich werde in einem Stall verrecken inmitten von Bauern und Kameltreibern, umschwirrt von Fliegen und mit dieser herrschsüchtigen Sonne über mir, deren Strahlung ein Gewicht zu haben scheint, unter dem das Holz des Schuppens ächzt.

Er näherte das Gesicht wieder dem Spalt, kniff das linke Auge zusammen und blinzelte hinaus. Auf dem gelblichen Erdboden war wie aufgemalt ein blasser Pfad zu erkennen. Eigentlich nichts weiter als eine Spur nackter Füße und doch schien er Albert in diesem Augenblick so absichtsvoll gerade, als hätte ihn jemand angelegt.

»Was siehst du? Präge dir alles genau ein.« Er bemerkte, wie seine eigenen Worte ihn beruhigten und entschied sich weiterzusprechen: »Lass dich von diesen Hungerleidern nicht einschüchtern. Sie sind nicht deine Feinde, sie wissen nur nichts von dir. Sie wollen Geld und vielleicht noch etwas anderes, worüber sie nicht reden. Aber all das hat nichts mit dir zu tun. Du schaust dich um wie immer, prägst dir ein, was du siehst, und wirst davon berichten, wem und wann auch immer, so präzise wie möglich.«

Sein Auge tränte und der Staub ließ ihn husten.

Er kniete nieder und lehnte den Oberkörper zurück. Jetzt begannen die Fesseln zu scheuern, die Blutarmut lähmte seine Hände. Er bewegte die Finger, stellte sich vor, einen Fahrradlenker zu halten und plötzlich verließ ihn der Mut. Er ließ sich auf die Seite fallen, wobei die Hände an den Fesseln zerrten. Er stöhnte, blickte unruhig im Verschlag umher, robbte auf die Blechschale zu, die sie ihm dagelassen hatten. Er schob sein Kinn hinein, nur um festzustellen, dass sie leer war.

»Das wusstest du, und doch hast du nachgeschaut.«

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und schob mit der gleichen Bewegung die Blechschale von sich. Draußen war das Gemecker von Ziegen zu hören, von fernher wurden menschliche Stimmen herangeweht. Das einfallende Licht veränderte sich, Albert döste vor sich hin. Wie leicht sie es sich gemacht haben, dachte er, einen wertvollen Gefangenen einfach nur zu fesseln und in einen leeren Schuppen zu sperren. Nichts daran wirkte vorbereitet oder gar geplant. Sie improvisieren, dachte er und fragte sich, ob das ein gutes Zeichen sei. Der Ruf des Muezzins lenkte ihn ab. Er dachte an die Stadt, die wieder so weit entfernt zu sein schien wie bei seiner Anreise.

Er fuhr auf einer der endlosen Landstraßen durch das staubtrockene Land. Ununterscheidbare Dornensträucher wuchsen am Weg und zuweilen, inmitten von Hügelrücken aus Sand und Geröll, entdeckte er Reste steinerner Gebäude, die aussahen wie zertreten. Er verspürte keinerlei Bedürfnis nach Zwischenstopps in halb verlassenen Dörfern mit Hütten, an denen im beständigen Wind immer etwas flatterte, als würden sie ganz aus dunklen Stofffetzen bestehen, die sich gerade jetzt, als sie daran vorbeifuhren, an den Nähten voneinander lösten. Dennoch blieb ihm nichts übrig, als jede dieser Rasten durchzustehen und die durch das Wagenfenster gekaufte warme Cola in sich hineinzuschütten. Er hielt die Augen halb geschlossen, ruhte sie aus