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Lesen, was kommtOverlay E-Book Reader

Lesen, was kommt

Hanser Literaturverlage

E-Book (EPUB)
2019 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
140 Seiten
ISBN: 978-3-446-26628-5

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Kurztext / Annotation
Unsere Auswahl aus dem Herbstprogramm - unter dem Motto 'Lesen, was kommt!'
Welche Bücher Sie unbedingt lesen müssen im Sommer und Herbst? Wir hätten da ein paar Vorschläge: Den Abenteuerroman 'Die Nickel Boys' von Colson Whitehead, in dem es um Rassismus - das nicht enden wollende Trauma der amerikanischen Geschichte - geht. Das Debüt von Ocean Vuong 'Auf Erden sind wir kurz grandios', in dem er sich auf 'eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit, nach Vietnam, in die Gewalt und in die Liebe' begibt (Sasa Stanisic) oder Tommy Oranges, der in 'Dort dort' die amerikanische Identität neu definiert. In eine vollkommen fiktive Welt entführt uns Karen Köhler mit 'Miroloi', welche das Schicksal einer jungen, rebellischen Frau erzählt, wohingegen Mircea Cartarescu mit einer Magnetspule, dem 'Solenoid', die Wirklichkeit schweben lässt. Freunde der Spannung sollten einen Blick werfen in Rafik Schamis 'Die geheime Mission des Kardinals', welcher in Syrien tot aufgefunden wird, und Delia Owens Debüt 'Der Gesang der Flusskrebse', das sich um das Mädchen aus dem Marschland dreht. Um das Älterwerden geht es in Sarah Ladipo Manyikas 'Wie ein Maultier, das der Sonne Eis bringt' und mit 'Alles okay' von Nina LaCour machen wir einen großen Sprung zurück in die Zeit des Erwachsenwerdens. Zum Schluss 'Weinen' wir mit Heather Christle, die diesen Moment als das Verbindungstück des Lebens in all seinen Facetten erkundet.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Leseprobe
Prolog

Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.

Der geheime Friedhof lag am Nordrand des Nickel-Geländes auf einem verwilderten Hektar Land, zwischen der ehemaligen Werkscheune und der Müllkippe der Anstalt. Als man dort noch Kühe hielt und die Milch an lokale Kunden verkaufte - eine Maßnahme des Staates Florida, um den Steuerzahlern die Kosten für die Jungs zu ersparen -, war diese Brache eine Viehweide gewesen. Die Entwickler des Büroviertels hatten das Feld als Lunch-Plaza vorgesehen, mit vier Wasserspielen und einem Musikpavillon für gelegentliche Konzerte. Die Entdeckung der Toten war eine teure Komplikation, sowohl für das Immobilienunternehmen, das auf grünes Licht durch das ökologische Gutachten wartete, als auch für den Staatsanwalt, der die Ermittlungen wegen der Missbrauchsvorwürfe kürzlich eingestellt hatte. Nun musste er schon wieder ermitteln, die Identität der Toten und die Todesursachen klären, und niemand wusste, wann man diesen ganzen verfluchten Ort endlich räumen, plattmachen und komplett aus der Geschichte tilgen konnte, was, darin waren sich alle einig, längst überfällig war.

Jeder Junge kannte diesen schlimmen Ort, aber es musste erst eine Studentin der University of Tampa kommen, um den Rest der Welt darauf hinzuweisen, Jahrzehnte nachdem man den ersten Jungen in einen Kartoffelsack verschnürt und in eine Grube versenkt hatte. Auf die Frage, wie sie die Gräber entdeckt habe, antwortete Jody: »Die Erde sah komisch aus.« Der eingesunkene Boden, das struppige Unkraut. Jody und alle anderen Archäologiestudenten der Uni waren seit Monaten damit beschäftigt, den offiziellen Anstaltsfriedhof auszugraben. Der Staat konnte erst nach der Umbettung aller sterblichen Überreste über das Grundstück verfügen, und die Archäologiestudenten mussten Praxis-Punkte sammeln. Sie teilten das Gelände mit Pflöcken und Draht in Suchfelder auf, gruben mit Handschaufeln und schwerem Gerät. Nach dem Durchsieben der Erde lag ein Durcheinander von Knochen, Gürtelschnallen und Limonadenflaschen auf ihren Tabletts, eine rätselhafte Ausstellung.

Die Nickel-Jungs nannten den offiziellen Friedhof Boot Hill, ein Name, aufgeschnappt in Samstagsmatineen, bevor man sie in die Anstalt steckte und solcher Freizeitvergnügen beraubte. Der Name blieb hängen, er war noch Generationen später in Gebrauch, unter jüngeren Schülern aus Tampa, die noch nie einen Western gesehen hatten. Boot Hill lag im Norden des Anstaltsgeländes gleich jenseits des hohen Hügels. Die weißen Zementkreuze, mit denen die Gräber markiert waren, fingen an lichten Nachmittagen den Sonnenschein ein. Zwei Drittel der Kreuze trugen eingeritzte Namen, alle anderen waren anonym. Die Identifizierung erwies sich als schwierig, aber der Konkurrenzkampf unter den jungen Archäologen sorgte für stete Fortschritte. Die Akten der Besserungsanstalt, obwohl lückenhaft und schlampig geführt, erlaubten Rückschlüsse auf die Identität von WILLIE 1954. Verkohlte Überreste deuteten auf Opfer des Wohnheimbrandes im Jahr 1921 hin. Positive DNA-Vergleiche mit lebenden Angehörigen - jenen, die die Studenten aus Tampa aufspüren konnten - verknüpften die Toten wieder mit der Welt der Lebenden, die sich auch ohne sie weitergedreht hatte. Von dreiundvierzig Toten blieben sieben namenlos.

Die Studenten türmten die weißen Zementkreuze neben der Ausgrabungsstätte auf. Als sie eines Morgens wieder an die Arbeit gehen wollten, hatte man die Kreuze zu Bruch und Staub geschlagen.

Boot Hill ließ seine Jungen nacheinander aus den Fängen. Jody war aufgeregt, als sie beim Abspritzen diverser Objekte aus einem der Gräber erste Funde machte. Professor Carmine meinte, der kleine, schmale Knochen in ihrer Hand stamme gewiss von einem Waschbären oder irgendeinem anderen Kleintier. Der geheime Friedhof entschädigte sie dafür. Jody stieß darauf, als sie auf der Suche n