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Sunset

Roman | Klaus Modick

E-Book (EPUB)
2012 Eichborn
Auflage: 1. Auflage
ab 16 Jahre
ISBN: 978-3-8387-2336-5

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€ 7,99

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Kurztext / Annotation

Feuchtwanger, Brecht und das kalifornische Exil - der Roman einer ungewöhnlichen Freundschaft.

Weltberühmt und wohlhabend, aber argwöhnisch beschattet von den Chargen der McCarthy-Ära, lebt Lion Feuchtwanger 1956 noch immer im kalifornischen Exil - der letzte der großen deutschen Emigranten. Als ihn an einem Augustmorgen die Nachricht vom plötzlichen Tod Bertolt Brechts erreicht, ist er tief erschüttert. Er hatte Brechts Genie entdeckt, hatte ihn gefördert, war ihm eng verbunden gewesen.

In stummer Zwiesprache mit dem toten Freund ruft Feuchtwanger die Stationen dieser Freundschaft wach, ihren Beginn im München der Räterepublik, die literarischen Triumphe der Zwanzigerjahre, die Flucht und das Leben im Exil. Aus seinen Erinnerungen kristallisieren sich zugleich die Antriebsfedern des eigenen literarischen Schaffens heraus: die Trauer um die als Säugling verstorbene Tochter, seine Schuldgefühle und sein Ehrgeiz, die Traumata seiner Kindheit - und schließlich die Liebe und die Vergänglichkeit. Am Ende des Tages, als die Sonne im Stillen Ozean versinkt, ist der alte Feuchtwanger sich seiner Stärken und Schwächen hell bewusst und hat eine Bilanz des eigenen Lebens gezogen.



Langtext
Feuchtwanger, Brecht und das kalifornische Exil - der Roman einer ungewöhnlichen Freundschaft. Weltberühmt und wohlhabend, aber argwöhnisch beschattet von den Chargen der McCarthy-Ära, lebt Lion Feuchtwanger 1956 noch immer im
kalifornischen Exil - der letzte der großen deutschen Emigranten. Als ihn an einem Augustmorgen die Nachricht vom plötzlichen Tod Bertolt Brechts erreicht, ist er tief erschüttert. Er hatte Brechts Genie entdeckt, hatte ihn gefördert, war
ihm eng verbunden gewesen. In stummer Zwiesprache mit dem toten Freund ruft Feuchtwanger die Stationen dieser Freundschaft wach, ihren Beginn im München der Räterepublik, die literarischen Triumphe der Zwanzigerjahre, die Flucht und das
Leben im Exil. Aus seinen Erinnerungen kristallisieren sich zugleich die Antriebsfedern des eigenen literarischen Schaffens heraus: die Trauer um die als Säugling verstorbene Tochter, seine Schuldgefühle und sein Ehrgeiz, die Traumata
seiner Kindheit - und schließlich die Liebe und die Vergänglichkeit. Am Ende des Tages, als die Sonne im Stillen Ozean versinkt, ist der alte Feuchtwanger sich seiner Stärken und Schwächen hell bewusst und hat eine Bilanz des eigenen Lebens
gezogen.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

- 2 -

Rumort das Wasser in der Leitung an diesem Morgen dumpfer als sonst? Es hört sich fern an, als steckten Pfropfen auf seinen Ohren. Das Spritzen und Rauschen der Dusche ist kaum wahrnehmbar, klingt nur noch wie eine matte Erinnerung an das alltägliche Geräusch. Um Wasser und Shampoo aus den Ohren fließen zu lassen, neigt er den Kopf nach links und rechts, wobei ihn ein Schwindelgefühl erfasst, als stehe er plötzlich wieder an Deck des in unruhiger Dünung schwankenden Schiffs, das ihn von Lissabon nach New York getragen hat; an die Reling gelehnt, hat er damals zurückgeschaut, bis der alte Kontinent im Abenddunst versank. Um nicht zu stürzen, umklammert er den Haltegriff an der Wand und dreht mit der anderen Hand den Wasserhahn zu. Das Rumoren erstirbt. Am Wannenboden strudelt das Wasser dem Abfluss entgegen. Er setzt sich vorsichtig auf den Wannenrand, nimmt ein Handtuch von der Stange, trocknet sich ab, stützt sich aufs Waschbecken, steht zögernd auf, misstraut seinem Körper.

Der Spiegel an der Badezimmertür ist an den Rändern vom Wasserdampf beschlagen, und ohne Brille ist sein Blick ohnehin verschwommen und trüb. Sein eigener Anblick befremdet ihn so, als irre er wieder durchs Spiegellabyrinth auf dem Münchner Oktoberfest, in dem er als Kind vor sich selbst erschrocken war, wenn er plötzlich zu einem rundlich gepressten Gnom und im nächsten Moment zu einer absurd in die Höhe schießenden Bohnenstange mutierte. Merkwürdig nur, dass er über seinen Körper so gut wie nichts weiß und auch die Erklärungen der Ärzte etwas Rätselhaftes behalten. Gewiss, Kreislaufschwächen und ein überempfindlicher Magen, gewiss, Prostatakrebs, aber was bedeutet das eigentlich? Was ist das genau? Zum Beispiel weiß er viel, fast alles, über die Lebensverhältnisse und Vorstellungen der alten Israeliten, die seinen neuen Roman bevölkern. Aber was in diesen Augenblicken in seiner Leber oder in seinen Nieren vorgeht oder woher das Schwindelgefühl unter der Dusche rührt, davon hat er keine Ahnung. Vielleicht ist der Mensch, der die Mächte des Atoms freigesetzt hat und sich anschickt, den Weltraum zu erobern, sich selbst gegenüber, den eigenen Eingeweiden gegenüber, immer noch feige, unvernünftig, blind? Vielleicht ist solche Feigheit nur die Angst vorm eigenen Verfall? Vielleicht ist es ja auch gut oder zumindest gnädig, wenn schwächer werdende Sehkraft dämpft, was der Spiegel zeigt. Die Symptome körperlicher, aber auch geistiger Abnutzung werden immer alltäglicher. Manchmal kommt es ihm so vor, als hätte er schon Erinnerungen an sich selbst.

Und auch die Muster, die das Kondenswasser über den Spiegel zieht, erinnern ihn an etwas halb Vergessenes. Etwas aus der Heimat. Eisblumen, denkt er. Das war es. »Eisblumen«, flüstert er, als müsse er das Wort schmecken, das Wort für eine Erscheinung, die es hier in Kalifornien gar nicht gibt und die es auch in den Jahren an der Côte d'Azur nicht gegeben hatte. Gibt es für Eisblume überhaupt ein englisches, ein französisches, ein Wort in anderen Sprachen? Russisch vielleicht oder Finnisch?

Die Eisblumen an den Fenstern der Münchner Wohnung, damals, in den dunklen, schweren Wintern Deutschlands, als es an allem fehlte, auch an Kohle für die Öfen, als er mit zwei Pullovern, Wintermantel und Schal am Schreibtisch saß und um einen Anfang rang. Die Worte sperrten sich, fanden nicht Takt noch Rhythmus. Er verzierte und verschachtelte, doch die Sätze blieben taub. Man konnte nicht willkürlich beginnen. Es brauchte etwas dazu, das von Absicht, Recherche und Wissen unabhängig war. Er blickte zum Fenster. Mit welcher Sorgfalt die Linien gezogen waren! Wie zart und doch kraftvoll aus Wasser und Frost. Die Eisblumen waren nicht geplant, nicht zweckmäßig und dennoch voller Fantasie, Harmonie der Linienführung und der Konstruktion. Er wusste nicht, wie, doch damals lernte er etwas von den Eisblumen und brachte mit klammen Fingern, aber gestochen klarer Handschrift Jud Süß<



Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger und arbeitete danach u.a. als Lehrbeauftragter und Werbetexter. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg.
Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter Villa Massimo, Nicolas-Born-Preis und Bettina-von Arnim-Preis. 2015 wurde Klaus Modick mit dem "Rheingau-Literaturpreis" ausgezeichnet.