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Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?Overlay E-Book Reader

Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?

Jürgen Kaube

E-Book (EPUB)
2019 Rowohlt Verlag GmbH
Auflage: 1. Auflage
336 Seiten
ISBN: 978-3-644-10076-3

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€ 12,99

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Kurztext / Annotation
Jürgen Kaube ist Herausgeber und Bildungsexperte der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' - und Vater von drei Kindern. Aus dieser doppelten Erfahrung heraus formuliert er eine provokante These: Schule, wie sie jetzt ist, ist zu blöd für unsere Kinder, eine Fehlkonstruktion. Sie bringt den Kindern bei, was diese weder brauchen noch wissen wollen - und zuverlässig fast komplett wieder vergessen. Schlimmer noch: Die Schule heute reagiert viel zu stark auf immer neue Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden. Die Digitalisierung des Klassenzimmers ist genauso Unsinn, wie es die Rechtschreibreform oder das Sprachlabor waren. Was jetzt gebraucht wird, sagt Kaube, ist eine Reduktion auf das Wesentliche: Kinder sollen denken lernen, darum und nur darum geht es in der Schule. Heute bringt sie ihnen vor allem bei, was leicht abgefragt werden kann. Und das ist das genaue Gegenteil von Denken lernen und damit von wahrer Bildung. Daraus leitet Kaube ebenso klare wie unbequeme Forderungen ab, die die Bildung unserer Kinder von unsinnigen Zwängen befreien. Jürgen Kaube legt ein Buch vor, das quer steht zu der bisherigen Bildungsdebatte, nicht einzuordnen ist in ein Schema von Links und Rechts, Konservativ und Progressiv. Gerade deshalb wird es heftige Diskussionen auslösen.

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

I. Kapitel Was die Schule angeblich können soll: alles

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.

Die Kölner Gymnasiastin, die das im Januar 2015 unter ihrem Vornamen Naina twitterte, bekam danach etwas mehr als die fünfzehn Minuten Ruhm, die einem jeden nach Warhol zustehen. In Deutschland war sie in aller Munde. Sie löste nämlich aus, was hierzulande eine Bildungsdebatte genannt wird: ein Meinungs-, Beschwerde- und Reformforderungsgewitter, bei dem der Schall schneller ist als das Licht, was zu eigentümlichen Kulturschauspielen führt.

So wurde Naina recht gegeben, in der Schule lerne man nicht für das Leben, sondern nur für die Schule selbst, mithin unnützes Zeug. Das hatte sie zwar gar nicht behauptet und wollte sie, wie sie in Talkshows umgehend erläuterte, auch gar nicht behauptet haben. Sie hatte nicht schlecht über das Analysieren von Gedichten geredet. Nur dass sie eben über das, was ihr als nächste Schritte im Leben vorschwebte - von zu Hause ausziehen, Geld verdienen, sich versichern -, auf der Schule nichts und auch sonst nirgendwo etwas erfahren habe.

Manche glaubten ihr nicht einmal das mit den Gedichten, sie wurde angegriffen, es heiße nicht «Gedichtsanalyse». Die Kenner der Fugenmorphologie bei Determinativkomposita im Deutschen - haben wir auch nachschlagen müssen - sind seit Jean Paul - der war uns noch erinnerlich - sehr strenge Leute, aber selbst ihnen fällt es schwer zu erklären, weshalb es Geduldsfaden heißt und Gehaltszahlung, jedoch nicht Gedichtsanalyse.

Das mit den vier Sprachen, ging es weiter, sei überdies auch ganz unglaubwürdig. Wer es weit bringt an deutschen Schulen, kann sich danach leidlich in dreien verständigen. Aber wer weiß, vielleicht meinte sie die Sprachen der Gedichte: Goethe, Shakespeare, Catull und Verlaine? Dann hätten in Köln tatsächlich Gedichte eine große Rolle gespielt. Doch weshalb sollte eine Bildungsdebatte denn nur anstoßen dürfen, wer selbst mehr Bildung nachgewiesen hat als ihre eilfertigen Teilnehmer? Andere wiesen die Schülerin darauf hin, dass man im Internet leicht die wichtigsten Informationen zu Mieten und Steuern finden könne. «Es ist eh lächerlich, was im Gym verlangt wird», meldete sich beispielsweise eine Stimme aus Österreich, «die anderen Sachen kann man echt auch selbst lernen.» Weniger höflich: «Für Buchhalter gibt's die Handelsschule.» Aber sie wollte doch gar nicht Buchhalterin werden, sondern nur orientiert sein. Der Präsident des Lehrerverbandes fand, für die Alltagstauglichkeit der Jugend seien die Familien zuständiger als die Handelsschulen. «Auch Humanisten dürfen wissen, wo es langgeht in der Welt», sprang Naina jemand bei, «wobei ich jetzt gar nicht behaupten will, dass Buchhalter wissen, wo es langgeht. Wir züchten Fachidioten.» So, als sei Steuerrecht vor Fachidiotentum geschützt.

Näher an der Frage, die der Tweet aufgeworfen hatte, lag die Bemerkung, es sei schon komisch, für die Kenntnis von Steuern und Mieten werde man mehr oder weniger freundlich ans Internet verwiesen, aber Gedichte zu analysieren werde unterrichtet. Gedichte bilden den Charakter, wurde entgegnet, Steuererklärungen «eher» nicht, und der damalige «Ressortleiter Auto» von Spiegel Online, der dies schrieb, ermahnte die Schülerin, nicht zu schnell erwachsen werden zu wollen. In der Schule Zeit verplempern zu dürfen, sei doch ein Privileg. Die Sinnlosigkeit dessen, was dort gelehrt werde, bereite außerdem aufs Leben vor, denn man lerne so, sich mit unangenehmen Situationen zu arrangieren und die Frage zu beantworten: «Wie schaffe ich es, mir Materie draufzuschaffen, die mich nicht interessiert?»

Spätestens hier hatte der Tweet Nainas seine Qualität als großartiges schulpädagogisches Rorschach-Bild bewiesen, denn noch